Gastbeitrag

Mental Health – vom kranken Umgang mit der Gesundheit

Frau steht mit Kopf zur Wand und eine schwarze Wolke mit den Worten "Mental Health" kommt aus ihrem Kopf

Von: Barbara Kolocek

Datum: 07.10.2022

Barbara Kolocek ist Trainerin für moderne Arbeitsmethoden, Coachin für Entscheidungsprozesse und Co-Herausgeberin des Buches “Arbeitswelt der Zukunft”. Bei ihrer alltäglichen Arbeit mit verschiedenen Unternehmen stellt sie immer wieder fest, wie stiefmütterlich das Thema “Mental Health” behandelt wird. Und dabei hätte es aktuell besondere Aufmerksamkeit verdient. Erfahre hier mehr über Barbaras Beobachtungen und was aus ihrer Sicht zu tun ist, gerade auch für Remote-Führungskräfte.

Unsichtbar krank sein fühlt sich manchmal richtig einsam an. Vor der Pandemie litt circa eine Milliarde Menschen unter psychischen Erkrankungen. In Deutschland ist jede vierte Person einmal im Leben davon betroffen. Sämtliche Forschungserkenntnisse zur psychischen Gesundheit der Menschen in der Arbeitswelt waren schon vor der Pandemie besorgniserregend, nur wurde darüber noch weniger gesprochen. Mit steigendem Anteil der Betroffenen steigt auch das Bewusstsein, dass dieses Thema ernster genommen werden muss. Nach meiner Einschätzung nicht ausreichend genug, aber es gibt zumindest ein paar Lichtblicke. 

Aktuell blicken wir auf zwei Jahre zurück, in denen veränderte Arbeitsumstände wie Kurzarbeit, Mehrarbeit, Home-Schooling/Office und viele weitere Faktoren das Wohlbefinden der Arbeitnehmer/-innen maßgeblich beeinträchtigt haben. Und je länger die Krise andauert, desto gravierender sind die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung und damit auch auf das Immunsystem jedes/r Einzelnen. Die Ärzte Zeitung schreibt hierzu:

„Rund 60 Prozent der Deutschen fühlen sich stärker mental belastet. Zudem meldeten die Krankenkassen 2020 einen Hochstand an Krankschreibungen aufgrund depressiver Erkrankungen.“

Das Bundesministerium für Gesundheit vermeldet folgende Zahlen:

„Rund 15 Prozent aller Fehltage gehen auf Erkrankungen der Psyche zurück. Besondere Brisanz erhalten psychische Erkrankungen auch durch ihre Krankheitsdauer, die mit durchschnittlich 36 Tagen dreimal so hoch ist wie bei anderen Erkrankungen mit zwölf Tagen.“

Die Rechnung ist simpel: Fallen Arbeitskräfte wegen psychischer Belastungen aus, hat das wirtschaftliche Folgen. Die dahinterliegenden Probleme sind vielseitig: Mitarbeiter/-innen, die sich ihrer Krankheit nicht bewusst sind. Mitarbeiter/-innen, die ihre Krankheit erkennen, sie ihrem Umfeld aus Angst vor Stigmatisierung aber verschweigen. Unternehmen, die nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen …

Einige Unternehmen glauben, „Prävention“ würde eine ergonomische Büroausstattung, gesundes Kantinenessen, die Einhaltung der Coronavirus-Schutzmaßnahmen und Ähnliches bedeuten. Zoomen wir in die Unternehmen hinein, bekommen wir ein tieferes Verständnis dafür, an welchen Stellen es im Gesundheitsmanagement schon lange mangelt. 

Im Folgenden möchte ich drei Beobachtungen schildern, die mich nachdenklich stimmen.

Beobachtung 1: Wir haben nicht die Kultur, um über psychische Belastungen offen zu sprechen

Es gibt sie, die Unternehmen, die ein Portfolio an Angeboten zur Förderung und zum Erhalt der psychischen Gesundheit anbieten und dennoch fällt es vielen nicht leicht, diese anzunehmen oder in der Gesellschaft darüber zu reden. Der offene Umgang mit der eigenen psychischen Belastung wirkt sich nicht immer positiv aus, da betroffene Mitarbeiter/-innen noch heute sehr schnell verurteilt und in Schubladen gesteckt werden.

„82 Prozent aller befragten Arbeitnehmer/-innen trauen sich nicht, offen über psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu sprechen, würden dies aber gerne tun.“ (Ipsos Mori, Teladoc Health)

 

„Jede/r zehnte Mitarbeiter/-in, der/die psychische Belastung/Erkrankung auf der Arbeit offen kommuniziert, wird gemobbt, zurückgestuft oder gekündigt.“ (Deloitte) 

Eine Frau sitzt auf einer Bank mit dem Rücken zum Betrachter

Mentale Belastungen führen oftmals zu Rückzug | Bild: Canva

„Stress im Job ist normal. Der verträgt ja gar nix.“, „Wenn die schon mal psychisch krank war, würde ich der keine große Verantwortung mehr geben“, „Der hat einen normalen Workload und redet gleich von Burn-out – wie peinlich.“ Solche und ähnliche Zitate sind leider noch immer aktuell. Solange wir nicht das Bewusstsein für diese ernstzunehmenden Erkrankungen schaffen, können wir auch Stigmatisierungen nicht entgegenwirken. 

Beobachtung 2: Steuerungen des Gesundheitsmanagements und Investitionen sind zäh

Die Herausforderungen der psychischen Gesundheit in Zusammenhang mit der Pandemie werden nicht weniger – im Gegenteil. Umso wichtiger ist es, dass Arbeitgeber/-innen ein stärkeres Augenmerk auf das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter/-innen legen. Punktuelle Maßnahmen wie einzelne Online-Events oder mal eine Motto-Woche zum Thema „Mental Health“ reichen da nicht aus, sondern können nur als Begleitprogramm dienen. Jede psychische Belastung ist individuell. Die Auslöser müssen nicht zwingend mit den Arbeitsumständen zu tun haben. Sie entstehen auch im Privatleben und werden ins Arbeitsleben getragen. Die Hilfsangebote müssen daher vielseitig und auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter/-innen zugeschnitten sein. In einigen Unternehmen scheint jedoch noch Unklarheit zu herrschen, (ob und) wer sich eigentlich mit dem Thema Gesundheitsmanagement strategisch beschäftigt. Vermutlich würde kaum ein Unternehmen abstreiten, dass ihm die Gesundheit der Mitarbeiter/-innen wichtig ist. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass sogar in großen Unternehmen, denen es nicht an finanziellen Mitteln mangelt, die Ressourcen für das Gesundheitsmanagement klein gehalten werden. 

Laut der Weltgesundheitsorganisation erzielt jeder US-Dollar, der in die Behandlung von psychischen Belastungen investiert wird, einen Gewinn von vier US-Dollar aufgrund besserer Produktivität. 

Wer diese Themen ernst nimmt und präventive Maßnahmen ergreift, unterstützt nicht nur die Gesundheit seiner Mitarbeiter/-innen, sondern auch die Wirtschaft. Die Gesundheitsabteilung (sofern es eine gibt), wird im kommenden Jahr mit Führungskräften und dem HR noch stärker an diesen Themen Hand in Hand zusammenarbeiten müssen. 

Beobachtung 3: „Lieber keinen Stress mit dem Stress“ – Führungskräfte widmen dem Thema zu wenig Aufmerksamkeit

Wie bei vielen anderen Themen ist es wichtig, dass das Management in den Unternehmen der Belegschaft zeigt, wie es sich dazu allgemein positioniert und Entwicklungen fördert.  

Die Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit dem Thema ist, dass Führungskräfte über Tabuthemen sprechen wollen und dass sie glaubwürdig sind. Gar nicht so einfach! In den letzten zehn Jahren habe ich sowohl als Festangestellte als auch als Freiberuflerin zahlreiche Veranstaltungen rund um die Zukunft der Arbeit organisiert, Kooperationen zu Eventveranstaltern gepflegt, diverse Arbeitskreissitzungen betreut und überwiegend mit Führungskräften zusammengearbeitet. Sämtliche Versuche, Programmpunkte wie „Psychische Gesundheit der Mitarbeiter/-innen – Rolle der Führungskräfte“ etc. in die Agenda aufzunehmen, sind dabei auf taube Ohren gestoßen. „Ja, das Thema ist wichtig, aber nicht jetzt …“ 

 Stattdessen ähnelten sich die Agenden rund um Themen wie „Purpose“, „Unternehmenswerte“, „Performance Management“ etc. Vielleicht hatte der/die ein oder andere Angst, das Thema anzutreiben und dadurch stigmatisiert zu werden? Angst vor Mauscheleien wie: „Wenn er/sie sich so stark für die Thematisierung einsetzt, ist er/sie vielleicht selbst betroffen? Haben wir hier eine kranke Führungskraft?“ Über den Grund der vielen Ablehnungen kann ich nur spekulieren. Wissen tue ich es nicht und pauschalisieren will ich es auch nicht. Ein Trend war jedoch zu erkennen. 

In manchen Unternehmen mit starken Betriebsräten gibt es zumindest einmal im Jahr eine umfangreiche Umfrage zur psychischen Belastung der Mitarbeiter/-innen, doch ein Dialog im Anschluss, um über die Erkenntnisse der Umfrage zu sprechen und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung vorzunehmen, gehört selten zum Prozess dazu. Unternehmen sind in der Regel gut darin, ihren Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen zu sagen, wie wichtig Transparenz in der Arbeitswelt ist, doch über manche Themen spricht man dann doch nicht gerne. Wer will schon offenbaren, wie „krank“ sein Unternehmen ist und vielleicht gibt es auch gute Gründe, warum nicht alle anonymen Zahlen offengelegt werden, aber was man erwarten kann ist, dass ein Thema wie die psychische Gesundheit der Mitarbeiter/-innen auf den Führungsetagen dauerhaft präsent ist. Wer sich als Führungskraft auf die Fahne schreibt, nach „New Work“-Prinzipen seine Firma voranzubringen, sollte sich vor allem um die Gesundheit seiner Mitarbeiter/-innen kümmern.  

Ich frage mich, wie es wäre, wenn ein Unternehmen seine eigenen KPIs nicht nur nach wirtschaftlichen Erfolgen auslegen, sondern sich zusätzlich auch zum Ziel setzen würde, glücklichere und gesündere Mitarbeiter zu haben? Naiv? Eine Utopie?

Was ist zu tun? 

  • Achtsam sein. Mit sich selbst und mit anderen:
    Der Umgang mit psychischer Belastung muss gelernt werden und erfordert viel Verständnis und Empathie. Die Tabuisierung psychischer Belastungen bleibt bestehen, solange Stigmatisierungen in der Arbeitswelt existieren. Wir sollten lernen, Stigmatisierungen zu erkennen und den Mut aufbringen, diese anzusprechen. Denn nur gemeinsam können wir Denkmuster aufbrechen und die Kultur verändern. 
  • Ein betriebliches Gesundheitsmanagement zum Erhalt und zur Förderung des Wohlbefindens auf- beziehungsweise ausbauen:
    Arbeitgeber/-innen brauchen einen Plan und Ressourcen, um ganzjährig für das Wohlbefinden der Mitarbeiter/-innen zu sorgen. Der Ausbau an Angeboten, Sprechstunden, Kooperationen, Beratungsunterstützungen sowie die notwendigen finanziellen Investitionen gehören dazu. Regelmäßige Pulsbefragungen und ein Diskurs in den Unternehmen sind ebenso notwendig.
Ein Stethoskop ist an die Plastik eines Gehirns geklemmt

Mentale Gesundheit als Priorität im Gesundheitsmanagement | Bild: Canva

  • Anonyme Hilfsangebote schaffen:
    Solange Betroffene schweigen, bedeutet das leider auch, dass sie auf Unterstützungsmöglichkeiten verzichten und sich ihr Zustand verschlimmern kann. Vielen Betroffenen kommt es sehr entgegen, wenn sie anonymen Zugang zu Hilfsangeboten im Unternehmen haben und beispielsweise mit schweigepflichtigen Betriebsärzten/-ärztinnen oder anderen Vertrauenspersonen im Unternehmen ein Gespräch suchen können. Digitale Angebote wie Online-Trainings senken ebenfalls die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen und können zudem die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken. Sie können auch zum Einsatz können, wenn es innerhalb des Unternehmens keine Hilfsangebote gibt.
  • Führungskräftetrainings und Coachings:
    Da sich der persönliche Kontakt unter den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen reduziert hat, wird es auch für Führungskräfte immer schwieriger, die emotionale Verfassung der Mitarbeiter/-innen zu erkennen und auf Distanz Vertrauen und Nähe aufzubauen. Umso wichtiger ist es für Arbeitgeber/-innen, die Führungskräfte zum Thema zu schulen und ihnen passende Hilfsmittel an die Seite zu geben. Anm. d. R.: Einen Überblick zu Online-Coachingangeboten und einen kleinen Einblick in digitale Therapiemöglichkeiten liest du in unserem großen Online-Coaching-Guide.
  • Präventiv handeln:
    Das heißt, von Beginn an eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die nicht durch zu hohe Arbeitsauslastungen, Unfairness, Unsicherheiten und viele weitere negative Faktoren geprägt ist. 

Die Coronapandemie hat den Arbeitsmarkt massiv verändert und wirkt noch immer nach. Nach dem ersten Schock ist Remote Work für viele Menschen zur Normalität geworden. Und nicht nur das – eine Rückkehr zur Präsenz scheint vielfach undenkbar. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich die Wahrnehmung und der Stellenwert von Gesundheit in der Arbeitswelt verändern muss!